Der Stomporm

Der Stumpfarm – ein Streuner, Wilderer und Mörder

Aus dem Leben des „Eifeler Schinderhannes” von Franz Josef Ferber

Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären.  F. v, Schiller

Es vergeht wohl kaum ein Tag, an dem man nicht überhäuft wird mit Informationen über Verbrechensgeschehen verschiedenster Arten in unserer unheilträchtigen, um nicht zu sagen schrecklichen Welt. Viele unserer Zeitgenossen mögen sich ob solcher Zustände die sogenannte gute alte Zeit herbeisehnen, die sie nur aus Erzählungen kennen, die es in Wahrheit aber nie gegeben hat, es sei denn, für eine verhältnismäßig kleine Bevölkerungsschicht. Die Welt ist, wie wir wissen, nie so heil gewesen, wie beispielsweise der Münchener Biedermeier-Maler Carl Spitzweg sie dargestellt hat. Und sie wird es mit Sicherheit auch in Zukunft nicht sein. Ein Teil der menschlichen Gesellschaftsglieder wird stets gesellschaftsfeindlich gesonnen sein, und er wird dies sichtlich zum Ausdruck zu bringen wissen, der eine in dieser, der andere in jener Form. Dabei stellen sich vielfältige Erscheinungsformen als geradezu kriminelle Handlungen dar. Mit dieser Gegebenheit müssen wir leben, mag uns dies passen oder nicht; wir müssen sie mit den uns gegebenen rechtsstaatlichen Mitteln weitmöglichst zu bekämpfen versuchen.

 

 

 

 

 

 

 

Johann Mayer als Schüler in Boos

Feinde eines jeden Gemeinwesens sind die Rechtsbrecher, Täuschen wir uns nicht! Die Welt ist zu keiner Zeit arm gewesen an Menschen, die die Rechtsordnung missachten. Dies gilt nicht nur für fremde Länder, sondern auch für unser Heimatland. Gerade in Zeiten wirtschaftlicher und politischer Unordnung und wegen der damit verbundenen allgemeinen Rechtsunsicherheit konnte das Verbrechertum auch hierzulande üppig gedeihen. Man denke nur an die Räuberbanden, die sich in der Zeit nach der Französischen Revolution und der Besetzung des linken Rheinufers bildeten. An erster Stelle wäre hier zu erwähnen die Bande, die von dem Räuberhauptmann Johannes Bückler, genannt „Schinderhannes”, angeführt wurde und die vornehmlich im Hunsrück, aber auch in Teilen der Eifel, ihr Unwesen trieb. Ein Zeitgenosse des Schinderhannes1 war Johann Esuk, der Anführer der sogenannten Eifelbande; sein „Operationsgebiet” war hauptsächlich die Landschaft zwischen dem Laacher See und Andernach, wobei die Orte Nickenich und Eich hervorzuheben wären. Johann Schiffmann („Tuchhannes”) machte zu Ende des 18. Jahrhunderts von sich reden; er ermordete in einer Nacht des Jahres 1796 vier Angehörige der Familie des Müllers Krones von der Sprinker Mühle. Die Beispiele ließen sich fortsetzen.

Dass auch unser engeres Heimatgebiet mit einem „prominenten” Rechtsbrecher aufwarten kann, ist zwar vielen, längst jedoch nicht allen Bewohnern des Kreises Daun bekannt. Gemeint ist hiermit Johann Mayer, von seinen Zeitgenossen der „Stumpfarm” genannt. Er war der Teufel eines Landstriches, der sich von Welcherart! (ehedem Kreis Adenau, später Kreis Mayen, heute Kreis Daun) über den Raum Kaisersesch (Kreis Cochem) bis fast zur Mosel hin ungefähr eingrenzen lässt. Seine Untaten waren hauptsächlich das Wildern und das Morden. Sein Werkzeug war ein Karabiner. Er verbreitete, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, einige Jahre hindurch bei seinen Mitmenschen Furcht und Schrecken.

Seine Herkunft

Johann Mayer, der spätere „Stumpfarm”, ist im Bereich des heutigen Landkreises Daun geboren, nämlich in Uersfeld. Dies ist amtlich einwandfrei belegt; denn seine Geburt wurde unter der Nummer 41 des Standesamtsregisters am 5. April 1886 vom Standesbeamten in Kelberg wie folgt beurkundet:

„Vor dem unterzeichneten Standesbeamten erschien heute, der Persönlichkeit nach bekannt, die Hebamme Maria Catharina Mindermann wohnhaft zu Uersfeld katholischer Religion, und zeigte an, dass von der Anna Maria Knorr katholischer Religion Ehefrau des umherziehenden Tagelöhners Johann Wilhelm Mayer katholischer Religion, wohnhaft früher zu Gunderath jetzt ohne bekanntes Domizil zu Uersfeld in der Wohnung des Philipp Eberhard am zweiten April des Jahres tausendachthundertachtzig und sechs Mittags um zwölf Uhr ein Kind männlichen Geschlechts geboren worden sei, welches den Vornamen Johann erhalten habe …”

Der Junge empfing die Taufe in der Pfarrkirche zu Uersfeld, nachdem er bereits am Tage seiner Geburt notgetauft worden war. Taufpaten waren Johann Schmitz aus Kaperich und Anna Bretz aus Nachtsheim. So steht es zu lesen im Taufbuch des Katholischen Pfarramtes Uersfeld aus dem Jahre 1886.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Geburtshaus des Johann Mayer in Uersfeld

Der Geburtsort Uersfeld war rein zufällig. Frau Mayer-Knorr hielt sich gerade hier auf, als die Zeit ihrer Niederkunft nahte. Bei dem Geburtshaus handelte es sich um das frühere ,,Leyendeckesch”-Haus in Uersfeld in der Hauptstraße (heute: Grundstück der Raiffeisenkasse). Die Geburtsstätte soll mündlicher Überlieferungen zufolge die Scheune des Anwesens „Leyendeckesch” gewesen sein. Eine eigene Wohnung hatten die Eltern, jedenfalls zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes, nicht. Nachdem Frau Mayer das „Wochenbett” verlassen konnte, setzte sie mit dem Kind die Wanderschaft fort. Wohin überall ihre Wege führten, lässt sich heute nicht mehr mit Gewissheit sagen. Tatsache ist jedoch, dass sie sich späterhin in Boos (Kreis Mayen) niederließ und dort längere Zeit gewohnt hat. Das Haus, worin Frau und Sohn Mayer eine Unterkunft fanden, steht heute noch dort, wenn es auch heutzutage anderen Zwecken dient.

Kindheit und Jugend

Die Eintragungen im Geburtenregister deuten schon daraufhin, dass die familiären Verhältnisse, in die das Kind hineingeboren wurde, schwierig waren. Die Eltern waren nicht ständig sesshaft; allenfalls hatten sie zeitweise ein festes Obdach. Dementsprechend war auch die wirtschaftliche Situation; sie war gekennzeichnet durch Armut und Elend. Der Vater hatte sich aller Wahrscheinlichkeit nach schon von seiner Ehefrau getrennt, bevor der kleine Johann das Licht der Welt erblickte. Die Mutter musste sich alleine mit dem Kind durchschlagen. Sie tat dies, indem sie bettelnd über Land zog. Sie „erbetete” sich — im wahrsten Sinne des Wortes und wie dies früher vielerorts geschah — die Almosen, das heißt, sie zog von Haus zu Haus, stellte sich an die Haustüren und betete ein Vaterunser. Wenn sie Glück hatte, bekam sie eine Kleinigkeit an Nahrung oder Geld. Ob das Erbettelte immer ausreichte, um sich und ihr Kind am Leben zu erhalten, ist ungewiss. Der Junge indessen wuchs heran. Er besuchte, vielleicht nicht regelmäßig, die Schule in Boos. Es lässt sich unschwer feststellen, dass er von Herrn Lehrer Johann Rausch unterrichtet wurde. Denn ein altes Schulfoto aus der Zeit um das Jahr 1899 zeigt Johann Mayer als etwa Dreizehnjährigen, hübsch gekleidet, ein Junge wie alle anderen. Niemand würde wohl auf den Gedanken gekommen sein, in ihm einen künftigen schweren Rechtsbrecher zu erblicken.

Dem Kindesalter entwachsen, musste Johann sich, wie dies für heranwachsende Menschen sozusagen natürlich war, sein Brot selbst verdienen. Dies fiel ihm wahrscheinlich schwerer wie seinen Altersgenossen. Denn er hatte es Zuhause wohl kaum richtig gelernt. Trotzdem hat er zeitweise, soweit die Verhältnisse es erlaubten, durch seine Hände Arbeit seinen Lebensunterhalt bestritten.

Im Mannesalter

Bereits im frühen Mannesalter hat Johann Mayer in einem Steinbruch gearbeitet. Dort soll auch das Missgeschick passiert sein, das vielleicht mitursächlich für seine spätere menschenverachtende Lebensweise wurde: er verlor bei Sprengarbeiten (oder beim Spielen mit Sprengstoff, wie da und dort behauptet wird) seinen linken Unterarm. Dieser Verlust brachte ihm den Spitznamen „Stumpfarm” ein. Seine späteren Arbeitgeber waren Bauern aus dem näheren Bereich, in dem er aufgewachsen ist, aber auch aus anderen Gebieten. So ist beispielsweise bekannt, daß er in den Jahren 1907/1908 in der Kartoffelernte bei einem Landwirt in Kruft geholfen hat. Um das Jahr 1912 arbeitete er im landwirtschaftlichen Betrieb einer Familie Schüller in Laubach. In den Anfangsjahren des Ersten Weltkrieges war er bei dem Landwirt Matthias Simon in Mannebach als Knecht tätig. Dieser Arbeitsstelle ging er verlustig, nachdem eines Tages bei der Familie Simon Gendarmen erschienen und sie darauf aufmerksam machten, daß ihr Knecht „nicht ganz sauber” sei. Seinen Arbeitsplatz nahm nun ein russischer Kriegsgefangener ein. Stumpfarm besorgte sich einen Karabiner und ernährte sich fortan vom Wildern; der Überlieferung zufolge war er ein guter Schütze. Auch scheute er gelegentlich nicht davor zurück, sich an privatem Eigentum der Bewohner dieses Gebietes zu vergreifen. Erwähnt sei hier nur der — allerdings nicht ganz geglückte — Schweinediebstahl in der Franzen-Mühle bei Mannebach. Trotzalledem wird nicht behauptet, Stumpfarm sei ein Spitzbube im herkömmlichen Sinne gewesen.

Irgendwann muß Stumpfarm den Bruch mit der Rechtsordnung vollends vollzogen haben. Wenn nicht alles täuscht, dann war dies etwa Mitte des Ersten Weltkrieges, also um das Jahr 1916, just zu jener Zeit, als er seine — vermutlich letzte feste — Arbeitsstelle verlor. Man bedenke: Stumpfarm war ein „Krüppel”, für den Kriegdienst nicht brauchbar und zum Arbeiten nur beschränkt verwendungsfähig. Von nun an hatte er auch keine dauernde Bleibe mehr. Er trieb sich vorwiegend in den Wäldern herum, übernachtete nicht selten in hohlen Baumstämmen und ernährte sich vom Wildfang. Trotz dieses unsteten Lebenswandels hat er seine mitmenschlichen Beziehungen keineswegs abgebrochen, im Gegenteil, er pflegte diese zum Teil ziemlich stark. Allerdings war der Personenkreis, zu dem er Kontakt unterhielt, merklich geschrumpft. Zum Kreis seiner Bekannten oder Freunde wären insbesondere zu zählen: Witwe Katharina F. aus Mannebach-Sickerath, Nikolaus Schüller aus Kalenborn (Kreis Cochem), Lorenz Reuter aus Masburg (Kreis Cochem), Maria Falk aus Bonn und schließlich Johann B. aus R., ein Deserteur aus der Zeit des Ersten Weltkrieges. Zu ihnen allen stand er längere Zeiten hindurch in engerer persönlicher Verbindung, bis sie — von einem Fall abgesehen — nach und nach Opfer seiner Grausamkeit wurden.

Seine Untaten

In den Notzeiten nach dem Ersten Weltkrieg zogen — wie dies auch nach dem Zweiten Weltkrieg geschah — sogenannte Hamsterer aus den Städten über Land, um bei den Bauern allerlei Waren gegen notwendige Lebensmittel einzutauschen. Vielfach kamen die gleichen Personen in die gleichen Gegenden. Als eine solche „Hamsterin” war auch Frau Maria Falk anzusehen, die in Bonn wohnte und in gewissen Zeitabständen nach Mannebach und in die umliegenden Dörfer reiste. Bei einer solchen „Hamstertour” lernte sie auch den Stumpfarm kennen, was ihr sicherer Untergang bedeutete, wie sich herausstellen sollte. Die geschäftlichen Beziehungen gestalteten sich anfangs zur beiderseitigen Zufriedenheit. Frau Falk brachte bei ihren turnusmäßigen Besuchen dem Stumpfarm lebensnotwendige Dinge aus der Stadt mit. Dieser bezahlte mit Naturalien, genauer gesagt, mit Wildbeute. Aus den Geschäftsbeziehungen soll sich, wie man wissen will, eine enge persönliche Verbindung entwickelt haben, die Frau Falk aber habe lösen wollen, als sie vom Vorleben ihres Bekannten erfahren habe. Doch die Lösung der Freundesbande regelte der Stumpfarm selbst, allerdings auf seine Weise. Bei einem Spaziergang zwischen Masburg und Hauroth endete das Leben der Frau durch eine Kugel aus dem Gewehr ihres Freundes.

Auch zwei weiteren Personen machte der Stumpfarm den Garaus: Nikolaus Schüller aus Kalenborn und Lorenz Reuter aus Masburg. Beide gehörten, wie bereits erwähnt, zu seinem Freundeskreis oder — wie die Bevölkerung es nannte — zu der „Bande”. Von Schüller ist bekannt, dass er sich von dem Stumpfarm absetzen wollte. In dieser Beziehung verstand dieser jedoch keinen Spaß. Er machte nicht viel Federlesens und erschoss beide Freunde, heimtückisch, zur gleichen Zeit und in der gleichen Gegend (in der Nähe von Reimerath-Boos). Die Leichen deckte er mit Reisig zu. Was anschließend geschah, ist an Scheußlichkeit kaum noch zu überbieten. Stumpfarm trennte den zwei Toten die Köpfe ab und vertauschte diese (!!). In der Tat: Man muss diesen Satz schon mehrmals gelesen haben, um ihn in seiner Tragweite zu begreifen. Und dennoch ist die Behauptung, wie sich noch zeigen wird, über jeden Zweifel erhaben. Lesen wir, was Frau Maria H. aus Mannebach (im Jahre 1978) hierzu aus ihren Jugenderinnerungen zu erzählen weiß:

„Es war in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg. Ich war damals zirka zwanzig Jahre alt. Zusammen mit vier oder fünf etwa gleichaltrigen Mädchen ging ich ins Distrikt ,Kant’ (zwischen Mannebach und Reimerath, im Quellgebiet des Nitzbaches, gelegen) .Streu machen’ (Anmerkung: Hierunter versteht man das früher übliche Mähen von Heidekraut zum Streuen und auch zum Füttern des Viehes). Zur Zeit der Kaffeepause kamen drei andere junge Leute zu uns. Sie waren ziemlich erregt und erklärten uns: .Wenn ihr gesehen hättet, was wir gesehen haben, dann hättet ihr keinen Appetit!’. Dann erzählten sie uns, daß sie im Gebüsch einen Toten gefunden hätten. Wir glaubten zunächst den Erzählungen nicht. Gleichwohl fiel mir auf, daß eines der Mädchen (Anna Michels) im Gesicht außergewöhnlich blass war, und ich begann, den Schilderungen Glauben zu schenken. Wir eilten alsdann gemeinsam zu der besagten Stelle, einer jungen Fichtenkultur, worin Streu (Heide) abgehauen war. Dort fanden wir nun den toten Mann vor, der notdürftig mit Wacholdersträuchern bedeckt war. Er lag auf dem Rücken, war mit einem Anzug bekleidet, der aus Soldatenuniformstoff gefertigt war; die Schuhe fehlten. Wir rätselten: Wieso konnte man trotz der Rückenlage das Gesicht nicht sehen? Dies lag nämlich genau der Erde zugewandt. Merkwürdig! Einer aus unserer Gruppe (Nikolaus Stadtfeld) packte sich den Mut, mit seinem Fuß leicht an den Kopf des Toten anzustoßen. Das Männergesicht wurde deutlich erkennbar, die Haare waren gescheitelt (Ich selbst konnte jedoch nicht erkennen, wer der Tote war, weil ich ihn zu seinen Lebzeiten nicht gekannt hatte). Aber noch mehr kam zum Vorschein: Der Kopf des Unglücklichen war von dem Körper abgetrennt! —Später konnte festgestellt werden, dass es sich bei dem toten Mann um Nikolaus Schüller aus Kalenborn gehandelt hat. Seine Schwester, die zur Identifizierung herbeigebeten worden war, konnte nur den Anzug wiedererkennen, weil sie ihn — wie sie sagte — persönlich aus einer Soldatenuniform für ihren Bruder zurechtgeschneidert hatte. Weshalb die Frau nicht sicher sagen konnte, der Tote sei ihr Bruder? Nun, er war ja mit einem .falschen’ Kopf versehen, nämlich mit dem des Lorenz Reuter aus Masburg …! Übrigens: Die fehlenden Schuhe von Nikolaus Schüller hatte der Mörder wiederverwendet; er hatte sie anderen Bekannten aus Mannebach gegeben.”

Bild: Zeitweiliges „Hauptquartier” des Johann Mayer: Sickerath bei Mannebach

Soweit also die Schilderungen der Frau H. Dem wäre noch hinzuzufügen, dass Lorenz Reuter — allerdings erst viel später — ebenfalls gefunden wurde, und zwar im Arbachtal, etwa einen Kilometer nördlich der bereits genannten Franzen-Mühle, im Distrikt Etscheid (Staatsforst in der Gemarkung Boos).

In Sickerath, einem zur Gemeinde Mannebach gehörenden Weiler, wohnte die Witwe Katharina F. Sie, die ihren Ehemann im Ersten Weltkrieg verloren hatte und mit ihren drei Kindern im Hause ihrer Mutter wohnte, war dem Stumpfarm sehr stark verbunden. Man sprach von intimen Beziehungen zwischen den beiden. Frau S. selbst hat aus ihrer Zuneigung zu dem Stumpfarm auch keinen Hehl gemacht. Gelegentlich sah man sogar beide gemeinsam zu einer Tanzveranstaltung nach Kelberg gehen. Sie versorgte ihren Freund mit Lebensmitteln, als er sich später vor dem Zugriff der Gendarmen in die Wälder zurückziehen musste. Bei den Beamten der Gendarmerie hat sie ihn schon mal als ihren Bräutigam bezeichnet. Das Elternhaus der Frau F. diente dem Stumpfarm lange Zeit als eigentlicher Unterschlupf. Frau F. war es auch, die ihren Freund in Schutz nahm, als eines Tages Gendarmeriebeamten erschienen und ihn verhafteten. Sie nahmen ihn am Schlafittchen und brachten ihn nach Virneburg, dem zu dieser Zeit für Mannebach zuständigen Amtsort; sie sperrten ihn im Spritzenhaus ein. Am selben Tage jedoch schaffte er sich die Freiheit wieder. Man sah ihn gegen Abend, sein Gewehr auf dem Rücken, zum Hause seiner Freundin in Sickerath schreiten. Die Gastfreundschaft belohnte er mit Rehen und anderem Wild, das den Leuten in der damaligen Zeit verständlicherweise willkommen war. Durch die enge Verbindung zu dem Stumpfarm konnte es auf die Dauer nicht ausbleiben, dass die Frau von dessen unrühmlichem Vorleben erfuhr. Und gerade dieses (Mit-)Wissen wurde ihr, wie einigen anderen, zum Verhängnis. Als beim Stumpfarm die Erkenntnis reifte, seine Bekannte könnte ihm einmal gefährlich werden, stand sein Entschluss fest: er müsse sie umbringen. Es sollte sich hierzu auch bald eine passende Gelegenheit bieten. Frau F. hatte zu jener Zeit die Absicht, sich eine Ziege zu kaufen. Das tat sie ihrem Freund kund. Dieser wusste auch prompt einen Rat. In einem Ort bei Kaisersesch (Düngenheim), so erzählte er ihr, wisse er eine gute Ziege, die verkäuflich sei. Frau F., keinen Argwohn hegend, ging kurzentschlossen mit ihm. Von dieser Reise kehrte sie nie mehr heim. Ihr Freund Stumpfarm hatte sie auf dem Wege dorthin hinterrücks erschossen. Ihre Leiche wurde zwischen Illerich und Kaisersesch unter einem Reisighaufen gefunden. —

Man sieht: Stumpfarm mordete nicht wahllos, sondern zielstrebig. Dabei ging er mit einer äußerst gemeinen Hinterlist und einer erschreckenden Rohheit zu Werke. Er war stets sorgsam darauf bedacht, Mitwisser seiner Untaten zu beseitigen. Unbeteiligte Menschen dagegen ließ er im Grunde unbehelligt; zumindest tat er diesen kein Leid an. Für diese Annahme gibt es hinreichende Beispiele, so die folgenden:

Als die Zahl der Morde, die auf das Konto des Stumpfarms gingen, zunahm, blieb es nicht aus, dass die Gendarmerie — teilweise mit Hilfe amerikanischer Besatzungssoldaten — ihre Bemühungen verstärkte, des Schurken habhaft zu werden. Wenngleich dieser sich immer mehr vor seinen Mitmenschen verbarg, so nahm er hin und wieder doch die Gelegenheit wahr, jemand anzutreffen, um sich nach dem Stand der polizeilichen Fahndungsmaßnahmen und über die öffentliche Meinung zu informieren. So trug es sich zu, dass Stumpfarm auf seinem Gang von Eppenberg zum Höchst auf einer der Wiesen, die an die Lirstaler Straße grenzen, einen Bauern sah, der dort sein Vieh hütete. Er stellte sein Gewehr zur Seite, schritt auf den Bauersmann zu und unterhielt sich mit diesem über allerlei, nicht zuletzt über den gefürchteten Stumpfarm. Der Bauer, arglos, erzählte ihm von der weitverbreiteten Angst unter der Bevölkerung vor dem Mörder Stumpfarm, wobei er auch mit seiner persönlichen Meinung nicht geizte. Nachdem der Wissensdrang befriedigt und der Unmut über die persönliche Beurteilung des Bauern bei Stumpfarm bis an die Grenzen des Erträglichen gestiegen war, gab dieser sich zu erkennen. Dem Bäuerlein trat der Angstschweiß auf die Stirn, als er den Stumpfarm zornentbrannt vor sich stehen sah. Er flehte um sein Leben. Stumpfarm stieß ihn kurzerhand ab und verschwand, unzweideutige Drohungen zurücklassend.

Johann Wagner aus Boos, ein ehemaliger, etwa gleichaltriger Mitschüler des Stumpfarms, machte sich eines Tages auf den Weg nach Salcherath (Gemeinde Retterath), um seinen dorthin verheirateten Bruder zu besuchen. Er machte nicht den weiten Fußmarsch über die Landstraße, sondern ging querfeldein. Sein Weg führte ihn schließlich durch ein größeres Waldstück. Als er dieses durchschritt, glaubte er plötzlich, seinen Augen nicht mehr trauen zu können, Auf einem Baumstamm saß, sein Gewehr in der Hand haltend, der weit und breit gefürchtete Stumpfarm. Dieser sprach ihm, offenbar die Erschrockenheit und Ratlosigkeit seines früheren Schulkameraden bemerkt, zu: „Hast du Angst vor mir, Johann? Du brauchst vor mir doch keine Angst zu haben!” Und dann fuhr er fort: „Was erzählen die Leute von mir? Bring’ mir auf deinem Rückweg ein Brot mit und stelle es hier an den Baum!” — Wagner hat später auf seinem Heimweg von Stumpfarm keine Spur mehr gesehen.

Ähnlich erging es auch Nikolaus Hermann aus Lind, als er einmal zu Besuch in seinem Heimatdorf Mannebach weilte. Nachdem er abends zwischen zehn und elf Uhr zu Fuß den Heimweg angetreten hatte, begegnete ihm ausgangs des Dorfes der Stumpfarm. Doch dieser dachte nicht daran, dem Fremden Schaden an Leib und Leben zuzufügen; er ging wortlos an ihm vorüber. —

Wie dargelegt, hat Stumpfarm seine engeren Freunde allesamt getötet. Sieht man einmal von Johann Simon („Fritzjes Hannes”, allerdings nicht mit Stumpfarm befreundet gewesen), einem Gastwirt aus Mannebach, dem der Stumpfarm eine Zeitlang nach dem Leben trachtete, ab, so ist ihm dies in einem einzigen Fall nicht gelungen: Johann B. aus R. überlebte den Stumpfarm, obgleich er, mit diesem jahrelang eng vertraut, es mit Erfolg gewagt hatte, die Freundesbande zu zerbrechen. Kann man annehmen, dass Stumpfarm seinen langjährigen Freund Johann B. von dem Schicksal der übrigen Freundeskreismitglieder ausnahmsweise verschonen wollte? Bestimmt nicht! Auch B. stand auf der ,,Abschussliste”, was daraus hervorgeht, daß er einmal in einer hellen Mondnacht bei Salcherath aus weiterer Entfernung beschossen wurde. Welcher Umstand ihn vor dem Erschießungstod bewahrte, wird sich heute kaum mehr genau erkunden lassen. Leute, die beide persönlich gekannt haben, meinen, dass Stumpfarm, nach übereinstimmenden Schilderungen seiner Zeitgenossen, ein mittelgroßer, etwas schmächtiger Mann, dem Johann B., kräftiger von Gestalt, körperlich — aber höchstwahrscheinlich auch geistig — nicht gewachsen war. Diese Unterlegenheit wurde dem Stumpfarm letzten Endes zum Verhängnis. Dadurch blieb der Belastungszeuge im Strafprozess, als der Johann B. (nach eigener Aussage) später auftrat, erhalten. Kein Wunder also, dass Stumpfarm bei seiner Festnahme bedauernd feststellte, er habe „einen zuwenig umgelegt”.

Unter solchen Umständen könnte man seine verbrecherischen Handlungen mit dem Dichterwort umschreiben: „Ist dies schon Tollheit, hat es doch Methode”. Nachträglich betrachtet, mag die zunehmende Angst in der Bevölkerung, besser gesagt, bei jenen, die mit dem Stumpfarm nichts zu tun hatten, unbegründet gewesen sein. Verständlich war sie allemal. Schließlich pflegte der Furcht und Entsetzen einflößende Mann mit dem Leben seiner Mitmenschen nicht gerade zimperlich umzugehen. Eine damals allgemein gebräuchliche Verhaltensregel lautete: „Paß’ auf, daß dir der Stumpfarm nicht begegnet!”

Bild: Das Jagdgebiet des Johann Mayer: Arbachtal mit Franzen-Mühle

Sein Ende

Im Sommer des Jahres 1922 konnten die Menschen aufatmen. Stumpfarm war gefasst worden. Die Kunde hiervon verbreitete sich wie ein Lauffeuer; auch die Umstände seiner Gefangennahme: Bei dem Dorf Eulgem in der Nähe von Kaisersesch, stieß Stumpfarm auf eine Landfahrersippe, von der er Feuer für eine Zigarette erbat. Vor ihr glaubte er sich einigermaßen sicher fühlen zu können. Doch seine Hoffnungen trogen. Das „fahrende Volk” war über ihn bestens informiert, stand es doch allerorten zu lesen, dass Stumpfarm gesucht werde, und dass auf seine Ergreifung eine hohe Belohnung ausgesetzt sei. Im Handumdrehen war er von den fremden Leuten überwältigt. Die Gendarmen erschienen, nahmen ihn fest an die Kandare und brachten ihn nach Kaisersesch zur Wache. Diesmal gab es kein Entkommen mehr, wie damals in Virneburg. Von Kaisersesch aus ging die Fahrt mit der Eisenbahn über Andernach nach Koblenz. Dort wurde ihm der Prozess gemacht.

Die Lebensweise des Stumpfarms ist nicht in allen Teilen mit denen seiner Vorgänger vergleichbar, wenngleich einige Gemeinsamkeiten zu verzeichnen sind. Allen gemeinsam ist vornehmlich dies: ihre außerordentliche kriminelle Energie und — ihr Ende. Wie bei Bückler, Esuk und Schiffmann, war bei Johann Mayer, zu dieser Zeit 37 Jahre alt, Endstation seines (zeitweiligen) Verbrecherdaseins das Fallbeil. Das Todesurteil, welches das Schwurgericht Koblenz am 7. Februar 1923 gesprochen hatte, ist am 29. Dezember des gleichen Jahres vollstreckt worden. Der zuständige Oberstaatsanwalt hat dies der Öffentlichkeit am 29. 12. 1923 mit folgenden Worten bekannt gemacht:

„Die gegen den Tagelöhner Johann Mayer, genannt,Stumpfarm’, ohne festen Wohnsitz, durch rechtskräftiges Urteil des Schwurgerichts Koblenz vom 7. Februar 1923 wegen Mordes, begangen in der Gegend zwischen Masburg und Hauroth an der Ehefrau Maria Falk aus Bonn, in der Gegend von Reimerath oder Boos an Nikolaus Schulter aus Kalenborn und Lorenz Reuter aus Masburg und in der Gegend zwischen Illerich und Kaisersesch an der Witwe Katharina F…. aus Mannebach, erkannten Todesstrafe, ist an dem Verurteilten heute in Köln durch Enthauptung vollzogen worden.”

Die Kunde von der Hinrichtung wurde weitverbreitet. Nicht nur in den Kölner Zeitungen wurde hierüber berichtet, sondern auch die hiesigen Zeitungen enthielten entsprechende Notizen. So war beispielsweise in der früheren „Eifeler Landeszeitung” vom 19. Januar 1924 (Druck und Verlag: Buchdruckerei F. Werner, Daun) zu lesen:

„ Morgens gegen 1 /2 7 Uhr wurde im Strafgefängnisse Klingelpütz in Köln der Knecht Johann Mayer . . . wegen 5fachen Mordes durch den Scharfrichter Heck aus Magdeburg mittels Fallbeil hingerichtet. Mayer war vom Schwurgericht in Koblenz viermal wegen Mord zum Tode und einmal wegen Totschlag zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Der fünffache Mörder hatte seine Untaten vor Gericht nicht eingestanden, legte jedoch kurz vor der Hinrichtung ein Geständnis ab. Er starb als reuiger Sünder und empfing vor seinem Tod noch die Sterbesakramente der kath. Kirche.”

Im Verlaufe der Zeit ist es still geworden um den Stumpfarm. Unseren Zeitgenossen erscheint er, nach einem Menschenalter, mehr als Figur einer bösen Legende denn als Wirklichkeit. Der Wanderer, den es in die anmutigen Täler des Nitzbaches und des Arbaches zieht, ahnt nichts von den menschlichen Tragödien, die sich einstmals in diesem landschaftlich reizenden Raum abgespielt haben. Hier, fernab der Hauptverkehrsstraßen, findet er etwas von dem, was man auch dem Stumpfarm zeitlebens gewünscht hätte, was ihm aber — Gott sei’s geklagt — nicht vergönnt war: innere Ruhe und Frieden.

Anmerkung:

Sinn und Zweck dieses Beitrages soll es sein, den verehrten Lesern des Jahrbuches einen Einblick in das Leben des Johann Mayer zu vermitteln. Naturgemäß kann die Darstellung nicht erschöpfend sein. Der Verfasser hat sich um eine objektive Schilderung des Sachverhaltes bemüht. Auf Wertungen hat er weitmöglichst verzichten wollen. Vor allem hatte er nicht die Absicht, die Gründe, die Johann Mayer zum Rechtsbrecher werden ließen, zu untersuchen. Auch wollte er es dahingestellt sein lassen, ob Mayer — wie da und dort behauptet wird — noch weitere Morde begangen hat; dies gilt vorzugsweise für den ihm in weiten Kreisen der Bevölkerung angelasteten „Brautmord” an Maria D. aus Mayen, der am Anfang aller Verbrechen gestanden haben soll (Wegen der Wirren nach dem Ersten Weltkrieg soll diese Straftat nicht gerichtlich abgeurteilt worden sein). Schließlich war es tunlich, in einigen Fällen aus bestimmten Gründen von einer vollständigen Namensnennung abzusehen. — Wie man bei chronistischen Aufzeichnungen auf die Verwendung mündlicher Überlieferungen vielfach nicht verzichten kann, so mußte auch und gerade hier auf die Aussagen älterer, kundiger und vertrauenswürdiger Leute zurückgegriffen werden, zumal die amtlichen Akten nicht zugänglich waren. Ihnen und allen, die in irgendeiner Form Material zu diesem Beitrag geliefert haben, sei hierfür an dieser Stelle herzlich gedankt.

Der Verfasser

Quelle:
Aus dem Leben des „Eifeler Schinderhannes” von Franz Josef Ferber